Index: Komponist*innen und Werke
Engelsgesang und Dämonengeschrei
Paul Hindemith: Sinfonie „Mathis der Maler“
21.04.2022 — von Johannes Liebig
Frankfurt am Main, im Herbst 1932: Der junge Komponist Paul Hindemith ist auf der Suche nach einem neuen Opernstoff. Auf Anregung seines Verlegers vom Mainzer Schott-Verlag entscheidet er sich, das Leben des spätmittelalterlichen Malers Matthias Grünewald (um 1460-1528) in Musik zu setzen. Grünewald, der zur Zeit der Reformation lebte und danach lange in Vergessenheit geriet, war seit Ende des 19. Jahrhunderts von der Kunstforschung wiederentdeckt worden. Die geplante Oper soll den Titel Mathis der Maler tragen.
Zur gleichen Zeit, als Hindemith an der Oper zu arbeiten begann, trat der damalige Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, Wilhelm Furtwängler, mit der Bitte um eine Auftragskomposition aus Anlass der Feierlichkeiten zum 50-jährigen Bestehen seines Orchesters an den Komponisten heran. Hindemith entschloss sich, beide Projekte zu verbinden und aus dem musikalischen Material der gerade begonnenen Oper gleichzeitig auch ein Orchesterstück zusammenzustellen – so entstand die Sinfonie „Mathis der Maler“, die zwischen November 1933 und Februar 1934 komponiert wurde. Ihre Uraufführung konnte am 12. März 1934 durch die Berliner Philharmoniker unter der Leitung Furtwänglers erfolgen – war jedoch eine der letzten Aufführungen eines Hindemithschen Werks im NS-Staat: Hindemith galt den Nationalsozialisten als „Kulturbolschewist“, zudem durch die Familie seiner Ehefrau Gertrud als „jüdisch versippt“ und wurde im deutschen Kulturleben zunehmend zu einer persona non grata. Er emigrierte Ende der 30er-Jahre zunächst in die Schweiz, wo in Zürich am 28. Mai 1938 die Uraufführung der Mathis-Oper stattfand, später weiter in die USA.
Die Sinfonie „Mathis der Maler“ konzipierte Hindemith als eine musikalische Widerspiegelung des bekanntesten Werks Grünewalds: des Isenheimer Altars. Hierbei handelt es sich um ein Ensemble aus Bildtafeln mit Darstellungen biblischer Szenen, das Grünewald zwischen 1512 und 1516 für das Antoniterkloster in Isenheim im Oberelsass gestaltete. Jeder der drei Sätze von Hindemiths Sinfonie ist von einem der Altarbilder inspiriert. Was bilden die Sätze im einzelnen ab?
Der erste Satz, Engelkonzert, bezieht sich auf eine Bildtafel, auf der drei musizierende Engel abgebildet sind. Einen musikalischen Bezug zu dieser stellt Hindemith durch das Zitat des Kirchenlieds „Es sungen drei Engel“ her, das am Beginn des Satzes von den Posaunen intoniert wird.
Darauf übernehmen die Holzbläser die Engelsmelodie, zuletzt kommen noch die Trompeten hinzu. Nach dieser Einleitung stellt der Satz drei musikalische Themen vor, was zum einen auf die Dreizahl der Engel im Lied verweist, zum anderen aber auch als Referenz zu dem österreichischen Komponisten Anton Bruckner (1824-1896) verstanden werden kann. Bruckner, den Hindemith verehrte, hatte in den Kopfsätzen seiner Sinfonien die Anzahl der Themen von den konventionellen zwei auf drei erweitert.
Das erste Thema des Satzes wird von den Flöten und Violinen vorgetragen (01:44). Die Musik hier und im zweiten Thema ist von kräftigem, manchmal rustikalem Charakter: Man meint die Lebenswelt des Mittelalters herauszuhören, besonders im zweiten Thema (02:56). Das dritte Thema schließlich bietet einen Kontrast: von der Soloflöte vorgetragen, schlicht und idyllisch, wie ausgelassen umherspringend (03:40).
Die Durchführung beginnt mit einem Fugato des zweiten Themas: Nacheinander setzen Bratschen, zweite und dann erste Violinen damit ein (04:26). Im weiteren Verlauf steigert sich das musikalische Geschehen bis zum Höhepunkt des Satzes, der, so könnte man sagen, eine Synthese des Vorangegangenen bietet: In großer kontrapunktischer Kunstfertigkeit lässt Hindemith das erste und zweite Thema sowie die Engelsmelodie gleichzeitig in verschiedenen Stimmen erklingen (05:31). Da die beiden Themen und die Liedmelodie in verschiedenen Taktarten stehen (3/4 bzw. 4/4), entsteht eine Polymetrik: Verschiedene Instrumente des Orchesters spielen gleichzeitig in unterschiedlichen Taktarten, was für Orchester und Dirigent eine ziemliche Herausforderung darstellt.
Die Reprise beginnt interessanterweise nicht mit dem ersten, sondern mit dem dritten Thema (07:07). Danach folgen noch einmal das erste und zweite, diesmal allerdings eher in Andeutungen als vollständig. Schnell steuert nun alles auf das Ende des Satzes zu, der von strahlenden Dur-Akkorden des ganzen Orchesters beschlossen wird.
Der zweite Satz der Sinfonie, Grablegung, stellt eine Bildtafel mit dem Begräbnis Christi dar: Der am Kreuz gestorbene Jesus liegt in den Armen seines Lieblingsjüngers Johannes, beweint von Maria und Maria Magdalena. Bei der Musik dieses Satzes handelt es sich um einen Trauermarsch. Die Streicher beginnen mit einem gewichtigen, charakteristisch punktierten Marschrhythmus (08:38), an den sich bald eine lyrische Episode in den Holzbläsern anschließt. Verhaltene Klagegesänge in Oboe und Flöte führen zu einer Wiederkehr der Marschpassage im ganzen Orchester (10:46).
Nach weiteren Soli von Klarinette und Flöte kommt der Satz zu einem ruhigen pianissimo-Ausklang in Cis-Dur (11:52). Die Wahl dieser Tonart – es ist die mit den meisten Kreuz-Vorzeichen – kann als Anspielung auf den Kreuzestod Christi verstanden werden. Auch vorher bewegt sich der Satz über weite Strecken im Bereich von Kreuztonarten. (Das kompositorische Stilmittel, in der Vertonung eines religiösen Textes mit Kreuzigungsthematik vermehrt Kreuzvorzeichen im Notentext auftauchen zu lassen, ist seit Bach immer wieder angewendet worden. Man nennt derartige Kunstgriffe auch ‚Augenmusik‘, da die Kreuze sich ja nicht hören, sondern nur im Notentext sehen lassen.)
Der dritte Satz, Versuchung des heiligen Antonius, reflektiert eine Bildtafel, auf der Antonius umringt und geplagt von bedrohlichen Dämonen dargestellt ist. Auf Grünewalds Gemälde findet sich eine lateinische Textzeile (Zitat aus der Legenda aurea, einer Sammlung von Heiligengeschichten), die Hindemith als Motto dem Satz vorangestellt hat: „Ubi eras, bone Jhesu / ubi eras, quare non affuisti / ut sanares vulnera mea ? “ – zu deutsch: „Wo warst du, guter Jesus / wo warst du, warum bist du nicht gekommen / zu heilen meine Wunden ?“
Der Satz beginnt mit einer wie improvisiert wirkenden Melodie in den Streichern unisono, die immer weiter fortgesponnen wird – eine Art Instrumentalrezitativ: 12:33. Danach wird das fließende Hauptthema des Satzes vorgestellt, das eine herannahende Gefahr – die Dämonen – anzukündigen scheint (14:18). Nach kurzzeitiger Beruhigung steigert sich die Musik bis zu einem Höhepunkt höchster Bedrängung (16:31).
Später wird das dramatische Geschehen – zumindest vorübergehend – von einer erholsamen Zwischenepisode unterbrochen wie von einer idyllischen Insel: Von den vorangegangenen Schrecknissen bleibt nur ein Violintriller in hoher Lage übrig, unter dem sich dann eine lyrische Cello-Kantilene entspinnt (17:48). Dieses Thema wird in der Folge an die höheren Streicher weitergegeben. Es hört sich stellenweise fast sphärisch an – und erinnert mich daher immer ein bisschen an die Gralsklänge in Wagners Lohengrin, besonders hier: 19:35.
Danach drängt sich wieder das bedrohliche Hauptthema in den Vordergrund: Die Dämonen kehren zurück, der heilige Antonius schwebt also weiter in Gefahr – wer könnte ihn noch retten?
Hindemith beantwortet diese Frage auf die für einen Komponisten naheliegendste Weise: Er gibt eine Antwort in Tönen. Dafür verwendet er einen alten kirchlichen Hymnus des Fronleichnamsfestes: „Lauda Sion Salvatorem“ („Lobe, Zion, den Erlöser“) – eine Lobpreisung Christi also. Hier der Hymnus in Reinform:
Diesen nun lässt Hindemith am Ende des Satzes in den Holzbläsern erklingen (24:26), und gleich darauf spielen auch noch die Blechbläser eine Melodie, auf die in der Mathis-Oper der Text „Halleluja“ gesungen wird (25:08). Dies bildet den triumphalen Schluss des Satzes und der Sinfonie. Mir scheint, Hindemith will hier mit musikalischen Mitteln ausdrücken, dass Jesus doch noch helfend eingreift und Antonius vor den Dämonen rettet. Der dritte Satz der Sinfonie, der gleichzeitig der mit Abstand ausladendste ist (etwa so lang wie erster und zweiter Satz zusammen), erscheint so gleichsam wie die Erzählung eines ganzen Dramas – und das in reiner Tonsprache!
Dieses erlösende Ende mit der Rettung des heiligen Antonius beschließt die Sinfonie und entlässt die Hörenden aus einer musikalischen Welt, die durch Lied- und Hymnuszitate farbenprächtig das Mittelalter evoziert und in der es Hindemith gelungen ist, die Bilder des Isenheimer Altars in Tönen lebendig werden zu lassen. So hat Grünewalds Werk in der Sinfonie „Mathis der Maler“ eine kongeniale Übersetzung in Musik gefunden.
Dieser Text entstand für ein Konzerts des HfMDK-Sinfonieorchesters am 24. April 2022 im hr-Sendesaal.