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Index: Komponist*innen und Werke

Der Tod und die Hoffnung

Franz Schubert: Klaviertrio Es-Dur D 929

19.04.2021 — von Debora Sanny Tio

Die poetische Manie für den Wind und die Natur im Allgemeinen, die sich durch das gesamte Biedermeier zog, entstand nicht ohne Grund. So lockten in Wien technischer Fortschritt und prosperierende Industrie zahlreiche Menschen aus dem ländlichen Raum an. Menschen, die schließlich zum neuen städtischen Bürgertum gedeihen sollten. Die durch die Übervölkerung geschaffene Not war indessen groß und wurde durch fragwürdige Sanitär- und Abwassersysteme nur noch verschärft. Steigende Sterblichkeit war eine unausweichliche Folge, dabei galt zu dieser Zeit die abgestandene und faulige städtische Luft als Hauptursache für Krankheiten. Während der Winter hart war, so war der Sommer, in dem die Nahrung schneller verfaulte und die kleinste Verletzung tödliche Infektionen verursachen konnte, fast unerträglich. Im Wien der 1820er Jahre lag der Tod im wahrsten Sinne des Wortes in der Luft.

Trotz der offensichtlich schrecklichen Lebensbedingungen wuchs Wiens Ruf als attraktive Stadt und phänomenales urbanes Zentrum. An den Ufern der Donau gelegen, und die Alpen vor der Tür, bot die Stadt das Beste aus beiden Welten. Während die Natur zum unmittelbaren Heilmittel gegen die Enge und den ständigen, schnellen Wechsel des modernen Stadtlebens wurde, diente die lebendige Wiener Gesellschaft als Ablenkung von den bitteren Lebensrealität. Die Nachfrage nach Unterhaltung war riesig, und viele derjenigen, die als sozial Ausgestoßene galten – umherziehende Musiker, Vagabunden, Bettler, und körperlich Missgebildete – bestritten mit ihr ihren Lebensunterhalt. Die Regierung versuchte die Zahl der umherziehenden Künstler zu regulieren, dennoch waren überall Straßenaufführungen zu sehen. Diese trugen wiederum zum besonderen Charakter der urbanen Geräuschkulisse bei und zu dem, was wir heute vielleicht als eine Art „morbiden Charme” wahrnehmen würden. In der Luft lagen nicht nur die Krankheit und der Tod, sondern auch unaufhörlicher Gesang, der Tag und Nacht durch die Straßen und Gassen Wiens zog.

Franz Schubert lebte zu jener Zeit in Wien. In seinen Liedern tritt der Tod schamlos häufig auf, siehe z.B Der Tod und das Mädchen, oder Der Erlkönig. Und auch das Es-Dur-Klaviertrio D 929, obwohl es nicht mit Worten von ihm spricht, bringt mich zum Nachdenken über den Tod.

Der gebürtige Wiener Schubert war zwanzig Jahre alt, als er mit einem seiner engsten Freunde, dem Dichter Johann Mayrhofer, zusammenzog. Es war im November des Jahres 1818. Schubert hatte den Sommer damit verbracht, den Töchtern des Grafen Esterhazy in Zseliz Musikunterricht zu geben, während Mayrhofer bereits seit vier Jahren tagsüber als Buchzensor arbeitete.

Johann Mayrhofer

Johann Mayrhofer, gezeichnet von Moritz von Schwind (gemeinfrei)

Aber wie konnte man als Buchzensor arbeiten und gleichzeitig Dichter sein? Die Fassade war nicht leicht aufrechtzuhalten. Ein lebenslanger Kampf, die beiden gegensätzlichen Identitäten unter einen Hut zu bringen, endete mit dem ergreifenden Tod des Dichters. Als depressiver Hypochonder stürzte sich Mayrhofer während der Cholera-Epidemie 1836 aus dem Fenster seines Büros. Tatsächlich war er wahrscheinlich nur einer von vielen, die zu dieser Zeit ein solches Doppelleben führten.

Im Bestreben, nach den napoleonischen Kriegen die Kontrolle zu bewahren und die Opposition mit ihren liberale Ansichten zu unterdrücken, hatte der berüchtigte Kanzler von Metternich eine wahrhaft strenge Zensur eingeführt. Der Polizeistaat nährte Misstrauen und Furcht, und infolgedessen zog sich das öffentliche Leben immer mehr in die privaten Räume zurück. Die allgegenwärtige Bedrohung der Privatsphäre brachte sogar Geheimsprachen und -gesellschaften hervor, wie der „Unsinngesellschaft“, deren Mitglied Schubert war. Sie bestand hauptsächlich aus jungen Malern und Dichtern, deren wirkliche Identitäten in einer Sprache aus humorvollen Symbolen und Anspielungen innerhalb der Gesellschaft geheim gehalten wurden. Die Zusammenkünfte der nunmehr berühmten „Schubertiaden“, bei denen viele von Schuberts besten Werken uraufgeführt wurden, wurden nie beworben; sie fanden immer in Privathäusern statt und wurden hauptsächlich von Schuberts Freunden organisiert.

Schubert mit Kaleidoskop

Leopold Kupelweiser, Das Kaleidoskop und die Draisine, Archiv des menschlichen Unsinns (1818, gemeinfrei)
Hier ist Schubert mit dem Kaleidoskop zu sehen. Aufgrund seiner Kurzsichtigkeit wird er im Mitteilungsblatt der Unsinngesellschaft oft mit optischen Hilfsmitteln, darunter dem Kaleidoskop, dargestellt.

Schubert war ein Nonkonformist. Dementsprechend war sein sozialer Kreis entschieden elitär, weil die Notwendigkeit dies erzwang. Sein gesamtes Schaffen entstand in dieser Atmosphäre des repressiven politischen Regimes.

Vielleicht ist das Lebensgefühl Wiens der Zeit am besten in Mayrhofers Gedicht „Einsamkeit“ eingefangen. Schubert hat das Gedicht während seiner Zeit in Zseliz vertont. In einem Brief an seine Freunde beschrieb er die Vertonung als „sein Bestes, was er gemacht hat.“

Gib mir die Fülle der Einsamkeit!
Im Tal, von Blüten überschneit,
Da ragt ein Dom, und nebenbei
In hohem Stile die Abtei:
Wie ihr Begründer, fromm und still,
Der müden Hafen und Asyl,
Hier kühlt mit heiliger Betauung,
Die nieversiegende Beschauung.
Doch den frischen Jüngling quälen
Selbst in gottgeweihten Zellen
Bilder, feuriger verjüngt;
Und ein wilder Strom entspringt
Aus der Brust, die er umdämmt,
Und in einem Augenblick
Ist der Ruhe zartes Glück
Von den Wellen weggeschwemmt.
...

Franz Schubert, Einsamkeit D 620 (Peter Anders, Tenor / Michael Raucheisen, Klavier)

Als Schubert im Winter 1827 sein Klaviertrio in Es-Dur schrieb, lebte er nicht mehr mit Mayrhofer zusammen. Obwohl Mayrhofer einer der wichtigsten Dichter in Schuberts Leben war – Schubert hat nicht weniger als 47 seiner Gedichte vertont – gingen die beiden nach einigen Jahren gemeinsamen Wohnens getrennte Wege. Nach 1821 vertonte Schubert nie wieder eines von Mayrhofers Gedichten.

Die Klaviertrio-Besetzung ist in Schuberts Werk die Ausnahme. Tatsächlich gibt es nur ein weiteres vollwertiges Klaviertrio, das B-Dur-Trio, in seinem gesamten Oeuvre. Das Es-Dur-Klaviertrio ist aber zweifellos eines der wichtigsten Werke Schuberts, der damit, wie er gegenüber dem Verleger Schott beschrieb, „nach dem Höchsten in der Kunst strebte“. Er bemühte sich zu Lebzeiten inbrünstig um die Veröffentlichung des Werkes. Dennoch erschienen die ersten Drucke erst im Dezember 1828, fast einen Monat nach seinem Tod. Die öffentliche Uraufführung fand hingegen noch zu Schuberts Lebzeiten statt. Im Musikverein, im wohl wichtigsten Konzert seines Lebens: dem einzigen, welches ausschließlich Schuberts eigenen Kompositionen gewidmet war. Das Trio war das Herzstücks des Konzerts, nicht die Lieder, für die er zu der Zeit eher bekannt war. Das Datum der Uraufführung war der 26. März 1828, genau ein Jahr nach dem Tod von Schuberts eigenem Helden, Beethoven. Die Violine spielte an diesem Tag Joseph Michael Böhm, das Cello Josef Linke. Linke hatte zusammen mit Beethoven 1814 das Erzherzog-Trio op.97 uraufgeführt. Böhm hatte, zwölf Jahre jünger als Linke, bei der Aufführung des ersten seiner späten Quartette 1825 eng mit Beethoven zusammengearbeitet.

Franz Schubert, Klaviertrio Es-Dur D 929 (Trio di Trieste)

Das Es-Dur-Trio besteht aus vier Sätzen und beginnt mit einem klangvollen, energiegeladenen und explosiven ersten Satz (Allegro). Das ständige Heraufschaukeln und Überschäumen bietet nur wenige Momente der Stille, da selbst in den ruhigsten Takten [03:53] Kaskaden von absteigenden Triolen in der Klavierstimme rieseln und die innere Unruhe unterstreichen. Andere dynamische Explosionen sind nicht weniger aufwühlend: Die lange Vorbereitung vor der Rückkehr des Hauptthemas [07:12] in der Reprise ist in diesem Sinne fast selbstzerstörerisch. Anstatt die Zuhörer in die triumphale Rückkehr des Hauptthemas zu führen, werden sie von dessen Ankunft völlig überrumpelt.

Der zweite Satz ist das emotionale Zentrum des Trios. Das wird schon in dem Moment deutlich, da sich die Begleitung im Klavier wie eine Prozession in Bewegung setzt.

Franz Schubert, Klaviertrio Es-Dur D 929, 2. Satz: Andante con moto (Trio di Trieste)

Schuberts Biograph Heinrich Kreissle von Hellborn, erzählte in seiner 1864 erschienenen Biographie des Komponisten, dass das Thema des Andante con moto aus einem schwedischen Volkslied stamme. Versuche, das Geheimnis des schwedischen Volksliedes zu lüften, wurden im Laufe der Zeit immer wieder unternommen, und erst 1978 wurde bestätigt, dass es sich um das Lied Se Solen Sjunker (Sieh, die Sonne versinkt) handelt – es wurde schließlich von dem Wissenschaftler Manfred Willfort in seinem Zeitschriftenaufsatz vollständig und mit Text wiedergegeben.

Isaak Albert Berg: Se solen sjunker (Werner Bind, Bariton / Wolfgang Brunner, Klavier)

So ähnlich sich das Lied und Schuberts Thema in Teilen auch sind: Schubert hat die elegische Melodie umfassend verwandelt. Der Komponist selbst machte keinen Hehl daraus, dass er die Melodie zum ersten Mal von dem viel bewunderten schwedischen Tenor Isaak Albert Berg auf einer Hausparty gesungen hörte. Die Melodie baute Schubert später in das Thema des Andante ein. Der charakteristische Oktavsprung, der in Schuberts Melodie (auch das Schlussmotiv des Satzes) so wesentlich ist, war im schwedischen Original auf das Wort „Farväl“ (auf Deutsch: „Lebewohl“) gesetzt.

Persönlich fällt es es mir schwer, den Satz nicht mit einem Trauerzug zu assoziieren. Nachdem ich von den Zeitumständen erfahren hatte, wurde ich in dieser Annahme nur noch bestärkt. In einer Gesellschaft, die ständig danach strebte, ihrer eigenen miserablen Existenz zu entfliehen, und in der es kaum Mittel zur Linderung körperlicher Leiden gab, wurde der Tod nicht unbedingt als Feind, sondern oft fast schon als erlösender Freund wahrgenommen. Aufwendige, pompöse Leichenzüge, „A scheene Leich“, waren an der Tagesordnung und galten in besonderen Fällen als wichtiges kulturelles Ereignis, wie zum Beispiel die Beerdigung Beethovens, bei der zwischen 10.000 und 30.000 Schaulustige anwesend gewesen sein sollen.

Beethovens Bestattung

Beethovens Bestattung, wie von Franz Xaver Stöber dargestellt (1827) (gemeinfrei)

Es ist faszinierend, sich vorzustellen, wie diejenigen, die bei der Uraufführung des Trios anwesend waren, sich gefühlt haben mögen, vor allem, wenn sie sich der „Botschaft“ bewusst waren, die der Komponist in der Musik verschlüsselt hatte. Ihr Ernst muss zumindest im privaten Kreis des Komponisten stillschweigend verstanden worden sein.

Franz Schubert, Klaviertrio Es-Dur D 929, 3. Satz: Scherzando (Allegro moderato) (Trio Wanderer)

Das nachfolgende Scherzo strahlt in seinem kanonischen Spiel reine Freude aus, begierig darauf, die schwere Vergangenheit hinter sich zu lassen und sozusagen ganz neu loszulegen.

Franz Schubert, Klaviertrio Es-Dur D 929, 4. Satz: Allegro moderato (Trio di Trieste)

Wenn wir beim brillanten letzten Satz (Allegro Moderato) ankommen, ist die Erinnerung an den Trauerzug im Hinterkopf verstaut – bis das eindringliche Hauptthema des Andante plötzlich wiederkehrt, dessen Eintritt durch das absteigende hemiolische Arpeggio vorweggenommen wird. Wie eine unheimliche Brise fegt es über die Tastatur – der unheilvolle Vorbote der Dinge, die noch kommen. Im Nachhinein betrachtet haben die witzigen, fast bissigen Martellato-Passagen, die schneidigen Sechzehntel, das ständige Auf-und-Ab und der unerbittliche Wechsel zwischen beiden, diesen Moment vorbereitet. Das Andante-Thema, der Tod, war nie wirklich weit weg. Die Spannung, die durch sein erstmaliges Wiederauftauchen im Finale erzeugt wird, ist ohne das jubelnde Scherzo und das charmante Hauptthema des Finales nicht möglich – die Erzählung des Stückes ist so ergreifend, weil sie psychologisch angelegt ist. So wie der Prozess der Trauer im wirklichen Leben „chaotisch“ und nicht linear verläuft, ist auch die formale Organisation des Stücks nicht gerade „effizient“, in Ermangelung eines besseren Wortes. Man ist versucht, aus ganz pragmatischen Gründen zu fragen: Sind alle diese Wiederholungen wirklich notwendig? Die Wahrheit liegt nur in den Herzen der Zuhörer. Musik als solche kann man kaum mit Wörtern beschreiben, man muss sie einfach selber anhören.

Als ich dieses Trio zum ersten Mal hörte, war ich von der Tiefe seiner Melancholie beeindruckt. Viele Jahre später, in Berlin, hörte ich das Andante wieder, als ich mit meinen engsten Freunden vor dem Fernseher saß und Kubricks Barry Lyndon ansah, während die Coda des Andante die Schlussszene des Films begleitete und mit dem letzten Ton des Satzes den Film beendete. Das Nachwort zu Barry Lyndon lautete:

It was in the reign of George III that the aforesaid personages lived and quarrelled; good or bad, handsome or ugly, rich or poor, they are all equal now.

Stanley Kubrick, Barry Lyndon (Schlussszene)

Plötzlich dämmerte mir, dass die heiteren, fröhlichen Momente in dieser Musik ebenso legitim sind wie die nostalgischen, trübseligen, dass auch in Zeiten der Trauer Freude und Humor gerade nicht unpassend sind. Vielleicht sogar erwünscht. Denn die eine Realität schließt die andere nicht aus.

Mehr als 70 Jahre nach Schuberts Tod vertonte sein Landsmann Arnold Schönberg ein Gedicht von Alfred Mombert als Teil seiner Vier Lieder op. 2. Das Gedicht trägt den Titel Warm die Lüfte und endet mit folgenden Worten:

Der Eine stirbt, daneben der Andere lebt:
Das macht die Welt so tiefschön.

Quellen:
Botstein, Leon, „Realism Transformed: Franz Schubert and Vienna“, in: The Cambridge Companion to Schubert, hrsg. von Christopher H. Gibbs, Cambridge 1997, S. 15 – 35
Steblin, Rita, „Schubert: The Nonsense Society Revisited“, in: Franz Schubert and His World, hsrg. von Christopher H. Gibbs und Morten Solvik, Princeton 2014, S. 1 – 38