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Wer ist dieser Held?
Ludwig van Beethoven: 3. Sinfonie Es-Dur, op. 55 (Eroica)
17.12.2020 — von Anne Ilic
Im Jahre 1817 fragte der Dichter Christoph Kuffner Ludwig van Beethoven, welche seiner bis dahin acht Sinfonien ihm die liebste sei. Beethoven nannte daraufhin die dritte Sinfonie, die Eroica.
Fünfzehn Jahre zuvor, 1802, hatte er mit der Sinfonie begonnen und arbeitete an ihr bis 1804. Eigentlich wollte er sie Napoleon Bonaparte widmen. Als begeisterter Anhänger der Aufklärung und der Französischen Revolution setzte er große Hoffnungen in den Ersten Konsul. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit – diese drei Ideen sollte Napoleon in Europa durchsetzen. Nach dessen Kaiserkrönung am 2. Dezember 1804 änderte er jedoch den Beinamen „Bonaparte“ in „Eroica“ um. Enttäuscht soll er gesagt haben:
„Ist der auch nichts anders, wie ein gewöhnlicher Mensch! Nun wird er auch alle Menschenrechte mit Füßen treten, nur seinem Ehrgeize fröhnen; er wird sich nun höher, wie alle Andern stellen, ein Tyrann werden!“
Der Mythos, dass Beethoven vor Wut das Titelblatt zerissen habe, stimmt vermutlich nicht: Er kratze allerdings deutlich sichtbar die ursprüngliche Betitelung „intitolata Bonaparte“ aus. Später jedoch fügte er wieder mit Bleistift „geschrieben auf Bonaparte“ hinzu.
Beethoven widmete die Sinfonie letztlich dem Fürsten Franz Joseph Maximilian Lobkowitz, da dieser ihm für die Sinfonie 400 Gulden bezahlte. Lobkowitz ließ sie im privaten Rahmen am 9. Juni 1804 uraufführen. Öffentlich wurde sie erst am 7. April 1805 in Wien aufgeführt.
Die erste Londoner Partiturausgabe aus dem Jahre 1809 trug zuerst den Titel „Sinfonia Eroica composta per celebrare la morte d’un Eroe“ und später „per festeggiare il sovvenire di un grand‘uomo". Bis heute ist allerdings nicht geklärt, wer dieser Held bzw. „große Mann“ ist und ob Beethoven sich in der Sinfonie überhaupt auf eine konkrete Person bezieht.
Der bekannteste Satz der Sinfonie ist sicherlich der zweite, der Trauermarsch (Marcia funebre). Dieser Satz sorgte und sorgt immer noch für Diskussionen und Mutmaßungen. Wer ist der Held, der gestorben ist? Um wen wird getrauert, für wen hat Beethoven den „Marcia funebre“ geschrieben? Und warum stirbt der Held nicht am Ende der Sinfonie, sondern mittendrin? Ist es Hector aus Homers „Ilias“? Oder ist der Held, wie Wagner vermutete, gar Beethoven selbst? Laut ihm habe Beethoven die philosophische Idee des Heldentums von allen Seiten, auch von der der Trauer, abgebildet.
Ist es Beethovens Gedanke an seinen eigenen Tod, an den er durch seine zunehmende Taubheit dachte? 1802 schrieb er im „Heiligenstädter Testament“, einem Brief an seine Brüder Kasper Karl und Nikolaus Johann, wie verzweifelt er wegen seiner fortschreitenden Ertaubung war. Im Brief wird deutlich, dass Beethoven auch an Selbstmord gedacht hat: „[E]s fehlte wenig, und ich endigte selbst mein Leben – nur sie die Kunst, sie hielt mich zurück“. Er musste erst seine Werke komponieren: „[A]ch es dünkte mir unmöglich, die Welt eher zu verlassen, bis ich das alles hervorgebracht, wozu ich mich aufgelegt fühlte“.
Doch es gibt weitere Mutmaßungen. Ist der gestorbene Held Kurfürst Max Franz? Seinem früheren Förderer wollte er eigentlich die erste Sinfonie widmen, nach dessen plötzlichen Tod wählte er aber Baron van Swieten. Auch Prometheus wird als möglicher Held gehandelt, schließlich gibt es mehrere Verbindungen zwischen Beethovens kurz zuvor komponierten Ballett „Die Geschöpfe des Prometheus“ und der „Eroica“. In diesem erweckt Prometheus seine zwei Tonstatuen mithilfe der himmlischen Fackel zum Leben, allerdings fehlen ihnen Gefühle. Appollon und seine Musen erwecken mit Musik in den beiden Gefühle, Vernunft und Reflexion. Sie wollen an einem heroischen Tanz teilnehmen, doch eine Muse zeigt ihnen, wie der Tod das Leben der Menschen beendet. Prometheus wirft sie vor, dass er seine beiden Kinder nicht unsterblich gemacht habe und bestraft ihn dafür, indem sie ihn ersticht. Der Hirtengott Pan erweckt Prometheus jedoch wieder zum Leben. Das Ballett endet mit festlichen Tänzen. Prometheus als Held der Sinfonie ist insofern nachvollziehbar, da er, nachdem er erstochen wurde, wieder aufersteht. Zudem wurde Napoleon Bonaparte von Zeitgenossen auch als Prometheus, als Kultivator der Menschheit, angesehen/ bezeichnet und Beethoven verwendet im 4. Satz das sogenannte „Prometheus-Thema“.
Ich will nun aber Beethovens dritte Sinfonie keinesfalls auf ihren zweiten Satz und den unbekannten Helden reduzieren, das würde die Sinfonie als Ganze geringschätzen. Zumal es für keine der Vermutungen sichere Belege gibt. Denn auch wenn es um einen Helden geht, zählt doch die Musik, die wir hören! Und die ist voller Neuerungen. Bereits durch ihre Länge fällt sie auf: Mit bis zu einer Stunde Aufführungszeit ist sie doppelt so lang wie die bisherigen Sinfonien. Und zum ersten Mal verlangt Beethoven in einer Sinfonie drei Hörner. Die Eroica ist ein Beispiel für den sogenannten „neuen Weg“, den Beethoven ab 1800 einschlug.
Spätestens nach den ersten zwei Akkorden ist man wach. Zweimal auf die erste Zählzeit Es-Dur in allen Stimmen im forte. Dann beginnt leise das erste Thema als motivische Idee in den Celli. Immer noch Es-Dur, als gebrochener Dreiklang. Bis es im siebten Takt auf dem Cis endet. Cis in Es-Dur, einer B-Tonart! Ein harmoniefremder Ton! Die motivische Idee wird anschließend durch die Stimmen gereicht und die Musik steigert sich dadurch, dass nur ein Teil der Idee wiederholt wird, nämlich die Dreiklangsbrechung in Vierteln. Diese geht durch verschiedene Tonarten und führt zu B-Dur, der Dominante der Haupttonart Es-Dur. Nach zehn synkopischen Takten, verstärkt durch Sforzandi, das heißt in diesem Fall 3er-Takten, die durch Schwerpunktverschiebungen zu 2er-Takten werden und die Beethoven in diesem Satz häufig verwendet, entlädt sich die ganze Spannung in den ersten großen Höhepunkt. Alle Musiker spielen, alle im Fortissimo.
Auch das zweite Thema (Takt 83) beginnt im Piano, diesmal aber in den Holzbläsern. Sie drängen dicht voran. Der Dirigent David Marlow bezeichnete es als „harmonisches Beben“.
In der für die damalige Zeit sehr langen Durchführung arbeitet Beethoven mit den Themen. Außerdem – und das ist ebenfalls eine Neuerung – taucht ein drittes Thema im Piano in den Oboen auf.
Hämmerten eben noch gewaltig die Synkopen, ist die Musik nun weich und empfindsam. Ein kompletter Gegensatz innerhalb von Takten. Das macht die Eroica aus: Beethovens dritte Sinfonie ist dynamisch und charakterlich sehr vielfältig. Dieser erste Satz verbindet Mächtiges, Heroisches mit Tänzerischem, Leichtem.
Der zweite Satz ist der Trauermarsch mit dem unbekannten Held und besteht aus drei Teilen. Er beginnt sehr langsam in c-Moll mit der klagenden Melodie in den Streichern. Anschließend wiederholt die Oboe diese wundervolle Melodie, die mich auf Anhieb verzaubert hat. Nach großer Trauer folgt der zweite Teil in C-Dur, das Trio. Hier zeigt sich ein Lichtblick, Zuversicht, in dem eher düsteren „Marcia funebre“. Doch die Hoffnung hält nicht lange an. Der dritte Teil beginnt wieder mit der klagenden Melodie vom Anfang. Sie führt in tiefe Tragik. In einer ruhigen Stelle erklingt nach einer Weile nochmal die Klagemelodie, dann wird die Musik erneut für einige Takte tragisch und schwer, bis sie sich beruhigt und etwas leichter wird. Noch mehrmals zieht sich die Klagemelodie durch den Satz, bis der „Marcia funebre“ in Verzweiflung ausklingt. Es ist ein sehr berührender Satz, den Beethoven komponiert hat.
Auf die Trauer (zweiter Satz) folgt die Heiterkeit (dritter Satz). Das schnelle Scherzo ist voller Energie. Freudig und leicht beginnt die Oboe nach einer kurzen Streichereinleitung mit der Melodie. In diesem Satz kommt auch die außergewöhnliche Anzahl von drei Hörnern besonders zur Geltung. Das Scherzo ist mit sechs Minuten der kürzeste Satz der dritten Sinfonie.
Im vierten und letzten Satz verwendet Beethoven ein Thema, einen Kontretanz, aus dem 1801 komponierten Ballett „Die Geschöpfe des Prometheus“.
Anscheinend war er überzeugt von dieser Melodie, die auch als „Prometheus-Thema“ bezeichnet wird, denn er verwendete sie in insgesamt vier Kompositionen: In den zwölf Kontretänzen (in den 1790er-Jahren entstanden), in „Die Geschöpfe des Prometheus“, in den sogenannten „Eroica-Variationen“ op. 35 für Klavier (1802) und nun im vierten Satz der Eroica. Übrigens: Die Bezeichnung „Eroica-Variationen“ entstand erst im Nachhinein, schließlich hatte Beethoven im Jahr 1802 seine dritten Sinfonie noch gar nicht geschrieben. Wie in den Variationen variiert Beethoven das „Prometheus-Thema“ im vierten Satz der Eroica.
Beethovens dritte Sinfonie vereint in extremer Dichte Gegensätze: Gesammelte Energie und Liebliches, Heroisches und Tänzerisches, Ruhiges und Mächtiges. Und vielleicht auch die in die Revolution gesetzte Hoffnung mit der enttäuschenden Wirklichkeit. Beethovens Schüler Ferdinand Ries schrieb 1803 über die entstehende Sinfonie: „Beethoven spielte sie mir neulich und ich glaube Himmel und Erde muß unter einem zittern bei ihrer Aufführung.“
Und wer ist nun letztlich der Held der Sinfonie? Für mich ist Beethoven der Held, der diese wunderbare Musik komponiert hat. Ein weiterer Held ist für mich der Oboist, der die berührende Melodie im „Marcia funebre“ spielen darf bzw. alle Musiker, die Beethovens Musik in Klang umwandeln. Wer Beethovens Held war, lässt sich aber wohl nicht mehr endgültig feststellen.