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Die magische Transparenz der Depression
Franz Schubert: 5. Sinfonie B-Dur D 485
24.08.2020 — von Franco Dario Marino
Manchmal hinterlässt das Leben Spuren – das trifft auf Franz Peter Schuberts Karriere zu. Immer wieder scheinen aussichtslose Momente sein Leben gezeichnet zu haben. Im Zeichen des Wassermanns wurde Schubert als viertes Kind am 31. Januar 1797 geboren. Das idyllische Örtchen Himmelpfortgrund in Wien war die Heimat der frommen Schubert-Familie. In einer Anderthalbzimmerwohnung brachte die Mutter insgesamt vierzehn Kinder in der Rauchküche zur Welt. Die ersten Schicksalsschläge erlebte Schubert als Kind: nur vier seiner dreizehn Geschwister überlebten. Die musikalische Begabung des jungen Schuberts erkannten die Eltern früh. Von seinem Bruder lernte Schubert Klavierspielen, den er bald mit seinen flinken und kurzen Wurstfingern aufholte.
Neben seinen Fähigkeiten besaß Schubert faszinierende Eigenarten. So schlief er beispielsweise mit seiner Brille ein, um gegebenenfalls nachts rasch eine geniale Idee notieren zu können. Um in die kreative Welt einzutauchen und die Blockaden zu lösen, trank er gerne über den Durst, er bevorzugte Wein und rauchte dazu Zigarren. Schubert ebnete eine musikalische Basis, die in seiner Epoche bedeutsam war: die Gestaltung des Notenbildes als Metapher und Vertonungen von Dichtern wie Goethe („Der Erlkönig“), Schiller („Der Jüngling am Bache“) und Wilhelm Müller („Die Winterreise“).
Breite Anerkennung für seine Musik kam jedoch erst nach seinem Tod. Der schüchterne Schubert freute sich zu seinen Lebzeiten über die kleine Fangemeinde in den so genannten „Schubertiaden“, die seine Werke in Hauskonzerten genoss. In Gundelhof spielte Schubert in einer großen Wohnung bei der Familie Sonnleithner seine Lieder und Sinfonien. Insgesamt komponierte Schubert 600 Lieder, sieben vollendete und fünf unvollendete Sinfonien. Die reifste Sinfonie aus Schuberts Jugendzeit ist die fünfte. Sonnleithner, der Schuberts musikalische Entwicklung mitverfolgte, bezeichnete die Sinfonie als „liebliche Sinfonie in B-Dur“. Durch die besondere Energie des Stückes beginnt die Sinfonie ohne Einleitung und vermittelt eine ausgesprochene fröhliche Haltung. In der kurzen Sinfonie gehen die Motive ineinander, ohne wirkliche Pausen zwischen den vier Sätzen. Oftmals gehe ich im Sommer mit meinem Smartphone und meinen Kopfhörer durch den Wald spazieren und genieße diese beeindruckende Jugendsinfonie. Zugleich bewundere ich die Natur und fühle mich im selben Atemzug in das Jahr 1816 zurückkatapultiert. Beim Hören spüre ich eine friedliche Fantasiewelt: ein Vogelschwarm bei Sonnenuntergang, ein plätschernder Fluss, der Geruch einer frischen Wiese, die warme Sonne, Sommerregen und in manchen Passagen die Natur bei Nacht.
Um die Emotionalität des Stückes zusätzlich zu stärken, setzte Schubert auf Metaphorik im Notenbild. Inwiefern sind dort Visualisierungen erkennbar?
Schuberts pantheistische Überzeugung beeinflusste womöglich seine einzigartige Musikwelt. Das Lied „Auf dem Wasser zu singen“, das 1827 erschien, lässt die Hörerin und den Hörer über schwingende Wellen treiben. Die Musik illustriert die Unbeschwertheit und das idyllische Wohlbefinden in der Natur - auf musikalischer und optischer Ebene.
Es tosen Gerüchte auf, dass Schubert gezielt auf seinen eigenen Tod hinweisen wollte. Offensichtliche Textstellen sollen diese Intention des Künstlers belegen.
So heißt es im zugrunde liegenden Gedicht von Leopold von Stolberg:
„Ach, es entschwindet mit thauigem Flügel Mir auf den wiegenden Wellen die Zeit. Morgen entschwinde mit schimmerndem Flügel Wieder wie gestern und heute die Zeit“.
Seine Fähigkeit, Metaphern in Notenbilder zu verpacken, bewies Schubert bereits als Jugendlicher in seiner 5. Sinfonie.
Die Verbildlichung von Naturphänomenen war eine ständige Begleiterin Schuberts. Direkt im ersten Satz der Sinfonie erklingen schnelle chromatische Abläufe, die ein auf- und absteigendes Muster darstellen. Auf den zweiten Blick ähnelt die Notenschrift eine Landschaft. Die Hilfslinien und Fähnchen visualisieren nahezu die Form einer Pflanze.
Der zweite Satz erzeugt eine magische und leichte Atmosphäre in Es-Dur. Die Sechzehntelketten, die von den Bratschen und zweiten Violinen gespielt werden, veranschaulichen einen festen Boden, der für die Erde (Mutter Natur) stehen könnte. Das Violoncello hingegen spielt Viertelnoten und erholt sich abwechselnd bei den kontinuierlichen Achtelpausen. Die Leitmotivik wird erst durch die Achtelpausen erkennbar: Keime, die unter der Erde ihren Platz finden, um die eindrucksvolle Natur nicht nur in der Musik, sondern auch in Notenbildern aufleben zu lassen. Die Viertelnoten illustrieren hingegen Wassertropfen, die die Erde befeuchten. Die sichtbaren Bilder bei den zarten Oboen, Fagotte und Hörner charakterisieren ein ähnliches Bild. Dabei ist die Verbindung von Note zur Triole auffällig: Die Haltebögen in den Noten können für zweierlei Motive stehen. Auf den ersten Blick werden die auskomponierten Noten als Windmotiv angesehen, da die Haltebögen eine Richtung zeigen, die für die veränderliche Natur stehen könnte. Wie die Sonne vom Regen abgelöst wird, wird der Tag durch die Nacht ersetzt. Das Feeling des Sonnenuntergangs wird musikalisch schwebend und frei abgebildet, indem die feinen Noten kraftlose Bewegungen spielen. Um der Natur in all ihren Facetten Raum zu geben, flammen im weiteren Verlauf auch stürmische und disharmonische Klänge auf, Wolken ziehen auf, und es bleibt offen, ob sich die Szene bei Tag oder Nacht abspielt.
Die gedankenverlorene Reise durch die viergliedrige 5. Sinfonie „1. Satz — Allegro, 2. Satz — Andante con moto, 3. Satz — Menuetto/Allegro moto, 4. Satz — Allegro vivace“ endet nach 26 Minuten. In ihrer Haupttonart B-Dur fühlte sich Schubert von allen Tonarten am wohlsten. Die Instrumentierung lebt von filigranen Oboen, Hörnern, Streichern und Flöten, die gefühlvolle Akzentuierungen setzen. Die Klänge werden von wiederkehrenden Motiven und durch den verträumten Aufbau begleitet. Gleich die ersten Takte versetzen die Zuhörer in eine herbstliche Stimmung, die auf dem Cover dieser Aufnahme gut zur Geltung kommt.
Die Botschaft der welkenden Natur setzt Schubert eindrücklich in Szene. Vielerlei Gedanken durchschwirren die einzelnen Sätze. Unterschiedliche Ideen werden vorgestellt und entwickelt. Die Fantasie erblüht — die Natur belebt. Die düsteren Töne, die im ersten Satz die lebhaften Streicher hervorbringen, pointieren die finstere und dunkle Natur in all ihren geheimnisvollen Teilaspekten. Die belebende Natur wird in all ihren Glanz mit freudigen und bezaubernden Klängen in Szene gesetzt.
Schubert wurde schon früh mit dem Sterben konfrontiert. Während seiner musikalischen Entwicklung wurde Schubert vom plötzlichen Tod seiner Mutter, Elizabeth Vietz, überrascht. Der junge Schubert, der gerade 15 Jahre alt war, wurde wieder in die Realität katapultiert. Und das Unglück wich nicht von Schuberts Seite. Eine weitere Katastrophe änderte sein Leben vollends: die Krankheit „Syphilis“. Im jungen Alter von 25 Jahren klagte Schubert über die Symptome der tödlichen Krankheit. Fortan veränderte sich die Stimmung des Musikers, die sich in den Kompositionen widerspiegelte: Einsamkeit, Melancholie, Sehnsucht, Traurigkeit und Angst. Spricht deshalb die Todesahnung an vielen Stellen aus Schuberts Musik? Die Vermutung liegt jedenfalls nahe.
„Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“ — die berühmte Gretchenfrage, die Johann Wolfgang von Goethe in seinem Faust formuliert. War Schubert nun religiös? Fand er in seiner trostlosen und kurzen Zeit Halt im Glauben?
Obwohl Schubert früh mit der Religion in Berührung kam, katholisch getauft wurde, Religion als Hauptfach belegte und mehrere Messen und Liturgien komponierte, fühlte er sich in einer anderen Glaubensrichtung besser aufgehoben. Um seine emotionalen Schicksalsschläge zu verarbeiten, suchte er eine Stütze im Pantheismus. Die naturgebundene Haltung machte sich bei der Auswahl der Gedichte bemerkbar, die Schubert vertonte. Kurz vor seinem Tod legte er seinen Fokus auf den Liederzyklus „Die Winterreise“, die seinen pantheistischen Glauben zusätzlich spiegelt. Die Reise beginnt mit „Gute Nacht“ und endet mit dem Tod des Leiermanns. Am 19. November 1828 starb Schubert in Wien an seiner unheilbaren Krankheit. Die Reise des Komponisten endete hier. Manchmal hinterlässt das Leben Spuren — und Schubert selbst hinterließ tiefe Spuren in der Musik der Romantik.