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Zwischen Wagner und Hitler
Anton Bruckner: 7. Sinfonie E-Dur
27.07.2020 — von Julie Dequatremare
Anton Bruckner war ein tief religiöser Mensch. Er führte ein ausführliches Gebetstagebuch, und auch sonst veranlasste ihn seine Gottesfurcht zu den – aus heutiger Sicht – kuriosesten Verhaltensweisen. War er zum Beispiel auf dem Weg zur Beichte, trug er einen weißen Handschuh. Im Falle einer Begegnung mit einer Dame konnte er so den direkten Körperkontakt vermeiden, sollte man sich zur Begrüßung die Hände schütteln. Er stammte aus einem kleinen ländlichen Ort in Österreich. Und als ihn sein Weg 1868 in die Großstadt verschlug, kam er nicht umhin, Aufsehen mit seinem fast schon tölpelhaften Benehmen und seinem starken Dialekt zu erregen. Gustav Mahler, einst ein Schüler Bruckners in Wien, sagte einmal über ihn „Er ist halb ein Gott, halb ein Trottel“, und nahm damit Bezug auf Bruckners außergewöhnliches sinfonisches Schaffen, das seinem seltsamen Verhalten gegenüberstand. Man kann sich gut vorstellen, dass ein zutiefst frommer Katholik aus der österreichischen Provinz im liberalen Wien dieser Zeit wie ein Außerirdischer wirkte.
Mit Mythen und Vorurteilen über Bruckner setzt sich eine Dokumentation auseinander, die am 23. Juli 2020 in die Kinos kam.
Bruckner war ein überaus schüchterner und zurückgezogener Mensch. Er hatte ein Faible für Oversize-Anzüge und verhielt sich anderen gegenüber unterwürfig. Er war zeit seines Lebens so unsicher in seinem Tun, dass er fast alle seine Sinfonien, sofern sie auf Kritik stießen, mehrere Male überarbeitete – jedoch die Siebte, die ich in diesem Text vorstellen will, nie. Eine Fotografie zeigt Bruckner im Alter von 30 Jahren. In einem viel zu großen Anzug klammert er sich unsicher an einer Notenrolle fest.
Seine Bescheidenheit stand ihm zweifellos oftmals im Weg. Wäre es nach ihm gegangen, wäre seine 7. Sinfonie vermutlich nie aufgeführt worden. Nachdem seine ersten sechs Sinfonien manchmal Erfolge, manchmal Misserfolge waren und er sich in der Wiener Musik-Szene als Außenseiter empfand, hatte er große Bedenken, was die Uraufführung seiner neuen Sinfonie anging. Einer seiner Schüler, Josef Schalk, präsentierte eine Bearbeitung für Klavier dem Kapellmeister des Leipziger Stadttheaters Arthur Nikisch, der sogleich in helle Begeisterung ausbrach: „Kaum hatten wir den ersten Satz der 7. gespielt, fing der sonst so ruhige und gesetzte Nikisch Feuer und Flamme […]. ‚Seit Beethoven [ist] nichts auch nur ähnliches geschrieben worden‘“, schrieb Josef Schalk seinem Bruder Franz nach dem Treffen. Nikisch versicherte Bruckner daraufhin seine Unterstützung und dass er diese Sinfonie ganz gewiss zu ihrer Uraufführung bringen würde. Der Briefwechsel zwischen Nikisch und Bruckner ist ein weiteres Zeugnis des unterwürfigen und übertrieben höflichen Verhaltens, das Bruckner wohl in erster Linie seinen Befürwortern gegenüber zeigte. Nach einigem zeitlichen Verschieben fand am 30. Dezember 1884 die Uraufführung mit dem Gewandhausorchester statt.
Bruckner komponierte seine Siebte in den Jahren 1881 bis 1883. Die Sinfonie beginnt mit einem Thema, das laut Bruckner gar nicht von ihm selbst stammt. Es sei eine Idee seines Freundes und Geigers Ignaz Dorn gewesen, der ihm im Schlaf erschienen sei und ihm das Thema gezeigt hätte: „Pass auf, sagte er, mit dem wirst du dein Glück machen!“, so die Worte Bruckners. Das Thema beginnt mit einer chromatischen Melodie, die sich langsam in Celli und Hörnern erhebt, später von den Klarinetten begleitet wird und dann vom Orchester wiederholt wird. Die Instrumentierung nimmt zu, um gleich darauf stark wieder abzunehmen, ein musikalischer Wellengang, der für Bruckners Sinfonien typisch ist.
Wenn ich mir den ersten Satz der Sinfonie anhöre, schließe ich dabei die Augen und fühle mich in eine andere Zeit versetzt. In meiner Vorstellung befinde ich mich auf einem Spaziergang im Morgengrauen, Tau liegt auf den Gräsern und Nebel ist um mich herum. Langsam erwacht die Natur aus ihrem Schlaf. Man sieht eine weite Graslandschaft, die sich am Rande eines Waldes befindet, und irgendwo in der Ferne steht ein Schlösschen. In Frankreich? An der Loire?
Die Verbindung Bruckners zu Frankreich ist jedoch tatsächlich nur lose. Als einer der größten Orgelvirtuosen seiner Zeit reiste er im Mai 1869 nach Paris, um dort in der Kathedrale Notre Dame ein Orgel-Konzert zu geben. Camille Saint-Saëns, der bei dem Konzert anwesend war und selber ja auch Organist war, schwärmte noch Jahre später von dem Konzert, denn solche Klänge einer Orgel hatte er bis dato noch nicht gehört. Die Zuhörer waren so begeistert, dass sie Bruckner nach dem Konzert umarmten und küssten. Bruckner erzählte nach seiner Rückkehr: „So ham's mi gfeiert, dass ma ganz anders wordn ist! Und die Damen, die mir zughört ham, hamt alleweil tres, tres gsagt. Du, die warn sauber!“ Bruckner war augenscheinlich überwältigt von der positiven Resonanz.
Saint-Saens wiederum war von Franz Liszt nachhaltig geprägt. Frankreich war im 19. Jahrhundert ein Mekka für die kompositorische Elite der Zeit. Liszt, der ja einen Teil seiner Schaffenszeit in Paris verbrachte, trug wiederum dazu bei, dass Wagner, der auch einige Jahre in Paris lebte, in Frankreich bekannt wurde. Liszt und Wagner waren für Bruckner große Vorbilder. Bruckners Kompositionsstil lässt sich allerdings nicht unmittelbar mit denen von Liszt und Wagner vergleichen. Er konzentrierte sein musikalisches Schaffen stärker auf die Komposition von Sinfonien und sollte damit den Status des „größten Sinfonikers seit Beethoven" erlangen – auch in Wagners Augen.
Bruckner verehrte Wagner. Ihn faszinierte dessen heroische und erhabene Musik. Bruckner hatte mit 38 Jahren das erste Mal eine Aufführung einer Wagner-Komposition miterlebt – den Tannhäuser in einer Aufführung in Linz am 12. Februar 1863. Von da an war es um ihn geschehen und er war von Wagner geradezu besessen. Er reiste im Mai 1865 zur Uraufführung von Tristan und Isolde nach München. Diese musste leider verschoben werden, doch es kam zu einem Treffen zwischen Bruckner und Wagner, der ihm sogleich eine Photographie von sich widmete. Von Beginn an war diese Beziehung eine zwischen einem Meister und seinem Ergebenen. Bruckner widmete daraufhin seine 3. Sinfonie seinem großen Vorbild. Seine Bewunderung für Wagner war so ausgeprägt, dass er – als die Komposition zum Stecher ging – seinen eigenen Namen schnörkellos und Wagners Namen reich verziert und in goldener Farbe stechen ließ. Wagner nahm dies wohl recht gelassen zur Kenntnis und ließ seine Frau Cosima – übrigens eine Tochter Liszts – Bruckner in seinem Namen danken.
Das letzte Treffen der beiden fand bei der Uraufführung des Parsifal (26. Juli 1882) statt. Wagner war zu diesem Zeitpunkt schon schwer durch Krankheit gezeichnet und man ahnte, dass es bald ein Ende mit ihm nehmen würde. Bruckner – tief berührt von diesen Eindrücken – machte sich nach seiner Rückkehr in Wien daran, den zweiten Satz seiner 7. Sinfonie, das Adagio, zu komponieren, und als Wagner dann am 13. Februar 1883 starb, ergänzte Bruckner noch eine zweite Coda. Sie beginnt beim Buchstaben X, und Bruckner, der ja ein zutiefst religiöser Mensch war, platzierte dieses Kreuz-Symbol als Zeichen für den Tod seines Meisters. Das Adagio, diese Trauermusik in Gedenken an Richard Wagner, „des Großen, Einzigen“, wie Bruckner ihn auf Nachfrage beschrieb, erinnert an dessen Trauermarsch zum Tode Siegfrieds aus der Götterdämmerung. Zum ersten Mal in einer Bruckner-Sinfonie kamen Wagner-Tuben zum Einsatz. Auf diese Weise setzte er seinem “Meister” ein Denkmal.
Noch heute, fast 140 Jahre nach Wagners Tod, bedrückt mich diese Musik. Durch ein Fenster sehe ich grauen Himmel, ich trauere um einen geliebten Menschen. Das Hauptthema legt sich schwer auf meine Knochen und hemmt jede Willenskraft. Sollte ich jemals um einen geliebten Menschen trauern, würde ich das Adagio als Soundtrack zu diesem Gemütszustand wählen. Ab besagtem Buchstaben X beginnt eine Motiv-Variation, die, durch verkürzte Intervalle (statt einer großen, nun eine kleine Sekunde), klingt, als würde Bruckner den herannahenden Tod Wagners auf dessen Sterbebett vertonen. Am Ende des Satzes tritt aus der düsteren Stimmung dann eine tröstliche Melodie, von den Hörnern gespielt, hervor. Der Sterbende schläft ruhig ein und das Leben weicht aus seinem Körper. Immer leiser werdende Streicher-Pizzikati gemahnen an verblassenden Herzschlag.
Während der erste und der zweite Satz zusammen zwei Drittel der gesamten Sinfonie einnehmen, teilen sich die letzten beiden Sätze das dritte Drittel. Das auf das Adagio folgende Scherzo beginnt düster, mit auf- und absteigenden Trompetensignalen. Bruckner, der sich für die Komposition des dritten Satzes in das Kloster in St. Florian zurückgezogen hatte, hörte eines Tages einen Hahnenschrei von einem benachbarten Bauernhof, der ihn zu diesem Thema inspirierte. Die Trompetensignale bestimmen die weitere motivische Entwicklung dieses Satzes. Der letzte Satz, das Finale, ist für Bruckners Verhältnisse kurz. Er stellt drei neue Themen vor, die oftmals durch ihre punktierte Rhythmik an die Themen des ersten Satzes anknüpfen. Der Satz steigert sich zu einem krönenden Abschluss im Fortissimo.
Wir machen einen Zeitsprung. Nun befinden wir uns im Jahre 1945. Hitler, der – sich seiner bevorstehenden Niederlage bewusst – am 30. April Suizid beging, bestimmte das Adagio der Brucknerschen Siebten zu seiner persönlichen Trauermusik. Er verfügte, dass es nach der Bekanntmachung seines Todes im Reichsrundfunk gespielt werden solle. An dieser Stelle sei allerdings gesagt, dass es zwischen Bruckner und Hitler keine politischen oder ideologischen Verbindungen gab, sondern dass auch Bruckner von den Nazis – wie so viele andere – ideologisch vereinnahmt wurde.
Bruckner war der Lieblingskomponist Hitlers. Ihm zu Ehren ließ Hitler 1937 im Walhalla-Monument nahe Regensburg eine Büste Bruckners enthüllen. Diese Ehrung wurde propagandistisch genutzt: Hier wurde ein österreichischer Künstler geehrt, ein halbes Jahr später sollte der „Anschluss“ Österreichs an das großdeutsche Reich erfolgen. In seiner Rede bei der feierlichen Enthüllung (von der auch noch Tonaufnahmen existieren) sprach Goebbels von Bruckner als einem „Spross eines alten Bauernstamms“, dessen Genialität untrennbar mit seiner „Rasse“ und seiner Herkunft in Verbindung stünden. Bruckner, als ein zutiefst frommer Katholik und kaisertreuer Mensch, wurde zur Identifikationsfigur der deutsch-österreichischen Nationalisten. Auch die gemeinsame Verehrung Wagners durch ihn und Hitler trug ihren Teil dazu bei.
Hört man sich die Siebte an, erklärt sich auch die Vorliebe Hitlers für diese Musik. Mich erinnert vor allem der erste Satz streckenweise an einen „Heimatfilm“, in dem die Alpen vor dem inneren Auge erscheinen durch die große Instrumentierung und die majestätischen Klänge. Sicherlich schwang bei Bruckner immer ein bisschen Heimatliebe mit, was allerdings in seiner Zeit auch noch nicht so verpönt war wie nach dem Dritten Reich. Im Gegensatz zu Wagner allerdings – der ebenfalls große Bewunderung seitens der Nationalsozialisten erfuhr – ist von Bruckner keine Aussage überliefert, die ihn in die Nähe der NS-Ideologie brächte. Hitler und seine Propaganda schrieben ihm Eigenschaften zu, die ihn in einen deutschtümelnden Künstler verwandelten und seine Musik als "urdeutsch" darstellten. Bruckner komponierte allerdings nicht nur für deutschsprachige Länder. Er komponierte für die ganze Welt.
Mit der 7. Sinfonie erlangte Bruckner erstmals internationalen Erfolg in Europa und sogar in Amerika. Er war über diese Anerkennung seines Werkes sehr berührt. Das Berliner Tageblatt vom 10. August 1885 schrieb: „Da stand er nun in seinem bescheidenen Gewande vor der erregten Menge und verbeugte sich hilflos und linkisch einmal über das andere. Bald zuckte es wehmütig um den Mund des alten Herrn wie von mühsam unterdrückter Rührung, bald leuchtete es gar wundersam in seinen Augen auf, und das nicht schöne, aber sympathische treuherzige Gesicht erstrahlte in einer so warmen, innigen Freude.“
Bruckner hatte es geschafft. Und trotz der vielen Ehrungen, die er daraufhin erfahren sollte, blieb er bescheiden und bodenständig. Einem Einwohner des Ortes, in dem seine Schwester lebte, stellte er sich einmal mit folgenden Worten vor: „Sie wiss’n wohl net, wer i bin? Ja, i bin dem Kaiser sein Organist und der Gärtnerin Hueber ihr Bruder!“
Literatur:
Floros, Constantin: Anton Bruckner : Persönlichkeit und Werk. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg, 2004.
Ulm, Renate [Hrsg.]: Die Symphonien Bruckners: Entstehung, Deutung, Wirkung. Bärenreiter-Verlag, Kassel, 1998.
Anton Bruckner, auf Music and the Holocaust (abgerufen am 26.07.2020)